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Druck und Manipulation bei Charismatikern?

[Lesezeit ca. 7 Minuten] Charismatische Gemeinden gelten allgemein als lebendig und lebensnah, so weit so gut. Aber gibt es nicht einen ganz großen Haken an der Sache? Empfinden Gläubigen dort nicht manchmal Druck oder gar Manipulation? 

Dieser Gedanke macht das, ansonsten recht gute, Image der Glaubensrichtung wieder zunichte. Aber stimmen die Vorwürfe denn überhaupt? Oder sind es überzogene Darstellungen von möglicherweise Supersensiblen, Neidern und/oder Querulanten? Wir sollten uns den Sachverhalt mal genauer ansehen.

Mir ist dabei wichtig zu klären: Wie kommt es zum Empfinden von Druck bei einzelnen Gläubigen? Ist es der selbstbewusste Auftritt charismatischer Prediger? Ist es die erhöhte Lautstärke in ihren Veranstaltungen? Oder führt die Neigung, zu Entscheidungen aufzurufen zu den unbequemen Vorwürfen?

Ich habe mir viele Gedanken zu diesem Vorwurf gemacht. Ich bin selber seit vielen Jahrzehnten in charismatischen Gemeinden unterwegs und habe dazu auch wiederholt mit Menschen gesprochen, die diesen Vorwurf geäußert haben. Das war nicht immer leicht, denn der Vorwurf geht manchem schnell von den Lippen. Wenn man jedoch nachfragt, was genau man darunter versteht, wollen nur wenige Menschen konkreter werden. Es ist manchmal so ein Gemeinplatz wie etwa: „Versicherungen sind schrecklich, immer wenn man sie braucht, zahlen sie nicht.“ Wenn man dann mal nachdenkt, für welche Schäden man schon Geld erhalten hat, kann man diese Aussage nicht immer halten. So ähnlich geht es den Charismatikern.

Ich selber habe die Sache mit dem Druck nie so empfunden aber ich will diese Empfindungen ernst nehmen. Ich will wissen, was genau sie unter Manipulation und Druck verstehen, das können sehr subjektive Empfindungen sein. Nach und nach bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es sicher diverse Gründe dafür gibt, von denen einige weiter oben schon genannt wurde. Jedoch scheint mir ein spezieller Sachverhalt dabei eine große Rolle zu spielen, auf den ich hier näher eingehen will. Es geht dabei um ein ganz zentrales Thema im Leben eines jeden Menschen, nämlich die Fähigkeit, seinen freien Willen einzusetzen und durch freie Lebensentscheidungen seinem Leben eine ganz spezielle, positive Richtung zu geben.

Der Stolperstein – das selbst-bestimmte Handeln der Christen

Bei dieser Thematik haben Charismatiker und die, in Deutschland verbreiteten, liberalen Protestanten nämlich sehr unterschiedliche, ja entgegengesetzte Sichtweisen. Das muss kein Nachteil sein, sorgt aber in diesem Fall für schlechte Stimmung, die dem Protestantismus insgesamt geschadet hat.

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Charismatiker prägen ihr Leben durch selbst-bestimmte Entscheidungen.

Charismatiker sind überzeugt davon, dass sie durch richtige Entscheidungen ihr Leben positiv prägen können. Damit sind sie dem gesellschaftlichen Mainstream sehr nahe. Auch hier gilt: Schaue genau darauf, was du sagst, was du denkst und wie du handelst, denn genau das kann Auswirkungen darauf haben, wie es dir in Zukunft geht, ob du gesund bist und gute soziale Kontakte hast. Der menschliche Wille wird fokussiert eingesetzt, etwas Gutes für den Menschen zu erreichen. Als Maßstab dient den Charismatikern, anders als der Gesellschaft, die Bibel.

Hier, zum besseren Verständnis, eine Definition von „Willen“ aus einem pädagogischen Lexikon: „Unter dem Begriff Wille versteht man die im Handeln zum Ausdruck kommende Fähigkeit der persönlichen Selbstbestimmung. Man übernimmt Verantwortung für sein Handeln. Daher muss für den Willensakt ein Maß von Wachheit und Einsicht vorausgesetzt werden. Der Handlungsvollzug kann sich zeitlich weit vom Entschluss absetzen.“ (aus: „Wörterbuch der Pädagogik“, Stuttgart: Verlag Kröner, S. 575,576)

Einige Besucher freikirchlicher Gottesdienste sind in der evangelischen Kirche aufgewachsen, sie suchen nach Alternativen und kommen so mit diesen Gottesdiensten in Kontakt. Ihnen gefällt die Musik und die lebendige Spiritualität. Nur mit den Entscheidungen haben sie manchmal ihre Probleme – und das hat folgenden Grund:

Martin Luther traf eine fatale Festlegung  

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Erasmus von Rotterdam (Bild) hatte einen spektakulären Disput mit Martin Luther, in dem es um die Freiheit des menschlichen Willens ging. Seitdem glauben evangelische Christen, dass sie ihr spirituelles Leben nicht durch Entscheidungen prägen können oder sollten.

Für liberale Protestanten spielt das Treffen von geistlichen Entscheidungen, historisch bedingt, fast keine Rolle. Alles Wesentliche ist dort festgelegt. Ob der Gläubige mehr mit Gott erleben will, zum Gottesdienst geht, betet oder in der Bibel liest, das macht für sein/ ihr Christen-leben keinen Unterschied. Im Gegenteil, es gilt sogar oft als uncool, man macht sich der Schwärmerei verdächtig.

Diese Sichtweise stammt aus der Zeit Luthers, wurde damals durch einen spektakulären Disput zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam festgelegt. Sie wurde mir vom Kirchenamt der EKD im Januar 2012 schriftlich bestätigt, gilt also noch heute. Seitdem lehrt die evangelische Kirche, dass der Mensch keine Entscheidungen treffen sollte. Jeder Aufruf dazu, eine Entscheidung für Gott zu treffen erscheint ihnen als sündhaftes Vergreifen an der eigenen Kraft und als Eingriff in Gottes Autonomie. Deshalb hat die evangelische Kirche auch solche Vorbehalte gegen die Themen Mission und Evangelisation.

Der evangelische Mainstream-Glauben geht also davon aus, dass der Mensch KEINE freie und selbst-bestimmte Entscheidung in Bezug auf Gott treffen kann. Ich persönlich halte das für ein fatales Überbleibsel aus dem Mittelalter. Die spirituelle Aufklärung hat dort noch keinen Einzug gehalten. 

Wenn nun der eine Teil der Protestanten es anstrebt, sein Leben durch richtige Entscheidungen zu prägen und der andere Teil das eben zutiefst als ungöttlich ablehnt, dann darf man, mit Recht, Spannungen vermuten. 

Und dann gibt es noch die Menschen, die gemütlich sind und gar nicht die Notwendigkeit sehen, ihr Leben zu ändern. Irgendwie gehören wir ja alle dazu. Wir denken nur an zahllose vergebliche Neujahrsschwüre.

Je nachdem ob ich selber Veränderungen in meinem Leben erleben möchte, können die Predigten der Charismatiker eine Chance oder auch ein Ärgernis sein. Sie können der Schlüssel zu tollen Erlebnissen mit Gott sein oder auch zu Druck führen. Es ist zugleich eine motivierende und eine unbequeme Verkündigung. Jeder hat Bereiche in seinem Leben, unter denen er leidet, bei denen er sich Veränderung wünscht. Zugleich ist es für uns alle herausfordernd, unsere Komfortzone zu verlassen. Gott liebt seine Gläubigen und er fordert sie heraus. Der Maßstab dabei ist die Bibel.

Unbequeme Predigtthemen können Chance oder Ärgernis sein

Ich habe selber oft erlebt, dass in Gottesdiensten Themen angesprochen wurden, die mich persönlich betroffen haben. Es ist ein ganz großes Plus der Bewegung, dass hier sehr praxisbezogen gepredigt wird. Wenn es zum Beispiel um Vergebung geht und ich gerade Groll auf eine Person hege und diesen pflege, kann es ganz schön unangenehm sein wenn das Thema in der Predigt angesprochen wird. Unruhig rutsche ich hin und her und habe das Gefühl, den Gottesdienst etwas früher verlassen zu wollen.

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Christliche Botschaften können uns manchmal ganz schön herausfordern. Manchmal macht es Mühe, sich dem zu stellen aber es lohnt sich.

Und doch ist es gut, sich dem Thema zu stellen. Es kann auch sein, dass in mir Druck aufkommt, wenn das Thema sehr anschaulich mit Beispielen dargestellt wird. Wenn nach der Predigt auch noch dazu aufgefordert wird, auf eigene „Bestrafung“ der Person zu verzichten, die mir Unrecht getan hat, dann gehen mir innerlich schon die Emotionen durch. Ich will es nicht einsehen weil der andere mir ja weh getan hat.

Wenn dann noch ein gemeinsames Gebet gesprochen wird, in dem ich mitbeten kann und den anderen freisprechen kann, dann kann ich mich entweder manipuliert fühlen oder ich kann sagen, „Ja, der Prediger hat Recht!“ und ich stelle mich dem, spreche den anderen, der mir Unrecht getan hat, frei und gehe frei und erleichtert nach Hause. Solches Erleben ist keine Seltenheit in diesen Gottesdiensten. Und genau solche Szenen sind, nach all meinen Gesprächen mit Betroffenen, ein wichtiger Grund dafür, dass mancher Druck erlebt und sich manipuliert fühlt. Und sicher gab es auch etwas Druck, aber er hat mir geholfen, mich aus einer belastenden Situation zu verabschieden.

Es ist schon komisch, wenn in charismatischen Gottesdiensten die Emotionen positiv angesprochen werden, wird ihnen vorgeworfen, „Wohlfühl-“Gottesdienste durchzuführen und damit Gläubige von anderen Kirchen abzuwerben. Wenn sie jedoch unangenehme Themen ansprechen, die uns dabei helfen, unser Leben zu entmüllen, heißt es, sie würden ihre Leute unter Druck setzen. Beide Situationen können vorkommen in den Gottesdiensten der Charismatiker.

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Ja, es kann vorkommen, dass in christlichen Gemeinden Druck entsteht und Fehler gemacht werden, genau wie überall, wo Menschen arbeiten.

Und, ja, es kann auch zum Erleben von etwas viel Druck kommen. Ältere Strukturen, enge Freikirchen, vereinzelte evangelikale Brüder- oder Gemeinschaftsgemeinden sowie Teile der „Faith“-Bewegung können davon betroffen sein. Stärker kann der Druck in einigen Aussiedler-Gemeinden sein, sie kommen aus einer anderen Kultur und sind manchmal bei diesem Thema nicht immer sensibilisiert. Das muss sich ändern. Wo Menschen arbeiten, da geschehen auch Fehler, das gilt sicher auch für den Gemeindebereich. 

Ich halte es für einen Fehler, deshalb gleich die ganze Bewegung oder die betroffenen Gemeinden zu verurteilen oder zu brandmarken. Es ist nicht jede Fehlentwicklung gleich auf bewusste Manipulation oder niedere Motive zurückzuführen. Auch in herkömmlichen Kirchen gibt es Menschen, die so sehr von ihrem Glauben überzeugt sind, dass sie etwas ruppig vorgehen, ohne dass sie den anderen Gläubigen verletzten oder manipulieren wollen. Nach Jahrhunderten des Status Quo und der Erstarrung, müssen Pastoren das richtige Maß an Motivation erst erlernen.

Pastoren haben das Recht, ihre Gemeinden herauszufordern

Jeder Gläubige hat das Recht, in seinem Glauben stehen gelassen zu werden und jeder Pastor hat ebenso das Recht, seine Gemeinde herauszufordern, damit sie sich zielgerichtet nach vorne entwickelt und nicht einschläft. Zwischen diesen beiden Polen gibt es ein Spannungsfeld, das, je nach Gemeinde, sehr unterschiedlich sein kann.

Es gibt Gemeinden, die sehr ruhig und bedächtig, manche würden sagen „verschlafen“ aufgebaut sind. Andere wieder sind eher ungestüm und fast wild. Der Gläubige sollte die Möglichkeit nutzen, sich unterschiedliche Gemeinden anzusehen und sich an die zu halten, die am ehesten seiner eigenen Vorliebe entspricht. Dabei sollte bedacht werden, dass, ähnlich wie bei einem Fitnessstudio oder Sportverein, die Gemeinden, die den Gläubigen etwas mehr herausfordern, wohl auch mehr Veränderungen bewirken können. Allerdings können sie auch etwas unbequemer sein und es kann eher vorkommen, dass Besucher Druck empfinden.

FAZIT: Ja, es gibt das Empfinden von Manipulation und Druck bei Charismatikern. Diese Empfindungen dürfen nicht abgebügelt werden, sie müssen ernstgenommen werden. Aber, sie sind nicht unbedingt das Ergebnis von manipulativen Tendenzen bei den Pastoren. Jahrhunderte lang wurde den Christen keinerlei Entscheidungen abverlangt. Heute wollen immer mehr Pastoren in ihren Gemeinden Veränderungen sehen deshalb fordern sie sie heraus. Trotz aller Vorsicht sind manche Besucher davon überfordert, sie sollten sich Gemeinden suchen, die hier etwas entspannter vorgehen. Es gibt heute eine große Vielfalt von unterschiedlichen Gemeinden, für Jeden ist etwas dabei.  

 veröffentlicht im September 2015 durch Jens Wätjen

 

[alle Fotos in diesem Beitrag von 123rf.com oder Shutterstock]

 

 

 

Infos zu meinem politischen Konzept finden Sie unter www.jens-waetjen.de; Medienexperte Jens D. Wätjen, was ich im Landtag von Baden-Württemberg ändern möchte; Wahlkreis 12, CDU, Ludwigsburg, Kornwestheim, Remseck, Möglingen, Asperg, Tamm

16 Kommentare zu „Druck und Manipulation bei Charismatikern?“

  1. nur ein kurzer Gedanke – vielleicht vom Herzen Gottes – bezüglich Druck und Manipulation in charismatischen Gemeinden… „Charisma und Charakter“
    es gibt Gebete die sind vor Gottes Thron wie… ICH, mich, meiner, mir Herr segne alle vier… und dann gibt es vielleicht einige die so beten: Herr, führe mich in meine Berufung, egal was es mich kostet.
    shalom wünscht von Herzen Sabine Hagel

  2. Man stelle sich das menschliche Leben ohne Druck vor! Kein Blutdruck = tot; zu hoher Blutdruck = möglicherweise bald tot. Unser biologisches Leben braucht ausgewogenen Druck: Blutdruck, Augendruck, Hirndruck, Thoraxdruck und Muskelspannung. Selbst ein flüchtiger Blick in die Bibel offenbart, dass Gott seinen Kindern noch nie allen Druck genommen hat und vieles einfach immer „spannend“ bleibt. Ein normaler, gesunder Druck hat noch keinem Christen geschadet. Wer mit dem Auto optimal weiterkommen möchte, sollte immer ein Auge auf den Reifendruck haben.

  3. Hallo, habe mich jetzt ernsthaft damit auseinandergesetzt und möchte folgendes dazu sagen:
    Ich denke Druck oder ich möchte sogar soweit gehen und geistlichen Mißbrauch sagen findet immer wieder in manchen Gemeinden statt unabhängig davon ob sie charismatisch sind oder nicht.
    Ich möchte an dieser Stelle konkret zwei Beispiele nennen, die ich selbst erlebt habe.
    Als Jesus Christus mich zu sich bekehrte geschah dies wirklich durch eine Erfüllung des Heiligen Geistes (vielleicht merkwürdiger Ausdruck), dies geschah ohne charismatischen Gottesdienst oder auch nur eines charismatischen Christen, der auch nur in der Nähe gewesen wäre. Genaugenommen wusste ich nichtmal das es Charismatiker gibt :D. Damals suchte ich eine Gemeinde und landete in einer absolut Anticharismatischen Gemeinde, da aber Gott mit mir sprach geriet ich direkt ins Kreuzfeuer der Kritik und der Ablehnung, ich wandte mich dann an einen Bruder der mich Jahre zuvor in genau diese Gemeinde eingeladen hatte, aber inzwischen Mitglied einer Pfingstgemeinde war. Damals war ich verheiratet mit einem Mann der mich täglich mißhandelte. Von der damaligen Gemeindeleitung wurde mir dann vorgeworfen, dies sei verständlich weil ich ja ihnen ungehorsam sei und Kontakt hätte zu einem charismatischen Pastor hätte.
    Eine mit mir befreundete Schwester war auch in einer anticharismatischen gemeinde ihr Mann brach ihr beide Arme und den Kiefer auch sie war häuslicher Gewalt ausgesetzt, ihr Vater Gemeindeleiter sagte zu ihr: „Wenn Gott will, musst du für deinen Mann sterben.“ Sie ließ sich dennoch scheiden und wurde der Gemeinde verwiesen.
    Druck oder geistlicher Mißbrauch ist keine Frage ob eine Gemeinde charismatisch ist oder nicht.
    Es gibt sicher auch in charismatischen Gemeinden Druck und Mißbrauch, das Problem ist denke ich, dass wir es einfach mit Menschen zu tun haben und die machen Fehler.

    1. Danke Daniela, für deine offene und ehrliche Antwort. Die Zustände, die Du beschreibst sind absolut indiskutabel. Ich würde eine solche Gemeinde sofort verlassen! Das geht gar nicht.
      LG Jens

  4. Es ist wie im richtigen Leben. Es gibt up and downs.
    So wie im Gemeinde Leben auch. Und ich möchte ein großes Lob an alle Gemeinden und ihre Prediger und Pastoren aussprechen. Sie haben es oft nicht leicht, da sie mit den Sorgen und Nöten vieler Menschen konfrontiert sind. Dem stand zu halten, gute Ermutiger an der Seite zu haben ist überaus wichtig. Gemeinsam, nicht gegeneinander.
    Füreinander und dazu gehört auch unser Pastor und seine Familie. Und nicht wie von einigen Menschen erwartet wird, das der Pastor es schon richten wird. Natürlich ist er ein Leiter, der die Gemeinde leitet in jesus. Aber genau da liegt der Punkt, der Pastor wird meiner Meinung nach viel zu wenig unterstützt und getragen. Und es ist doch auch unser Bruder

  5. Viele guten Ansötze in dem Artikel, aber m.E. leider nicht bis zu Ende gedacht/ausgearbeitet.
    Das liegt IMHO daran, dass Du dieses System von „innen“ betrachtest. Einfach mal ein halbes Jahr Auszeit nehmen und schauen was passiert. Und dann diesen Artikel überarbeiten.

    Wenn Du mit vielen „Aussteigern“ aus evangelikalen und/oder charismatischen Kreisen sprichst, wirst Du feststellen das es ein großes Defizit gibt: Systeme und Theologien werden über Beziehungen gesetzt. Nur weil ständig der Anspruch verkündet wird „biblisch“ zu sein oder die „besseren“ Menschen zu sein, heisst das noch lange nicht, dass es so ist. Dadurch dass ich jeden Sonntag die besten Willensbekundungen mache, heißt das noch lange nicht, dass das am Dienstag passiert.

    Die Frage, die sich jeder „Christ“, ganz besonders bei den proklamierten Ansprüchen, stellen muss: Was sind die Auswirkungen meines Lebens? Wenn es darum geht Bestätigung zu bekommen und sich 1-3 mal die Woche mit Gleichgesinnten zu treffen, so dass man sich wohlfühlt: Dafür brauche ich keine wie auch immer geartete Gemeinde. Modellbau oder Kaninchenzucht bewirkt das gleiche.

    Und noch eine andere Sache: Wie wird mit finanziellen Ressource umgegangen? Auch da wieder die Frage, was haben die ganzen Gelder, die da fliessen und gespendet werden, für Auswirkungen.
    http://nordn.de/2015/03/03/freikirchen-und-die-geldverschwendung/

    Practice what you preach.

    Alles andere ist Selbstbetrug und verleitet zur Heuchelei.

    1. Lieber André, vielen Dank für deinen sehr interessanten Kommentar.
      Ich selber bin Insider und will das auch nicht ändern weil es mir sehr viel bedeutet, Mitglied einer Gemeinde zu sein.
      Nur mal etwas zum Nachdenken für Dich: Dialog und Veränderung kann nur stattfinden wenn man selber die Identität offenlegt und wahr und ehrlich auf die andere Seite zugeht. das habe ich mit diesem Artikel getan. Im Gegensatz zu dir ist meine Identität offen erkennbar und ich stehe dazu. Es ist so wichtig, aus der Schuldzuweisung herauszutreten und die andere Seite stehen zu lassen.
      Deshalb mein Tipp an Dich: Kommuniziere offen und gehe mal wieder ein Jahr lang in einen Gottesdienst, lasse Versöhnung zu und suche dir eine Gemeinde, die dir gefällt. Aber es wird zu Konflikten kommen, lasse sie zu. Es sind ganz normale zwischenmenschliche Konflikte. lasse sie zu, halte sie aus und fliehe nicht vor ihnen. Stelle sich dem, das wird dich vorwärts bringen. Da bin ich ganz sicher.
      Herzlichen Gruß
      Jens

      1. Hallo Jens,
        ich kann Dein Ansinnen versehen, und es mag sein dass ich da ein wenig eindimensional rüberkomme. Aber nach über 30 Jahren (Frei)Kirche bin ich nicht der Typ der enttäuscht in der Ecke sitzt und seinen Frust über seine Mitmenschen/verlorenen Jahre auskübelt, pointiert vielleicht, da kann ich Dich beruhigen. Ich habe meine Peergroup und wenn ich mit Dir in begrenztem Rahmen diskutiere, mache ich das für den Erkenntnisgewinn und nicht um jemanden von DER (sprich meiner) Wahrheit zu überzeugen.

        Ich habe die Freiheit in Beziehungen zu leben, in denen ich zweifeln und fragen darf, das empfinde ich als großes Privileg. Gottesdienst ist von Montag bis Samstag. Und manchmal auch Sonntag.
        Was mich nur auf die Palme bringt, sind selbstgerechte, selbstzentrierte Menschen, die alles wissen und damit ihre Mitmenschen „belästigen“. Nannte man im NT Pharisäer. Und das waren die größten Feinde Jesu, die haben ihn ans Kreuz gebraucht, nicht die böse Welt mit ihren Prostituierten und Verbrechern. Schon mal überlegt, wenn jemand am Sonntag in den GoDi käme und die Leute am Büchertisch verprügeln würde und randalieren würde?

        Die Bibel und Kirchengeschichte geben mir keinen Anlass zu glauben, dass das Pastoren/Gemeinde/ Kirchensystem das System ist, welches von Jesus gewollt wurde. Jesus wollte Beziehungen. Er lebte Beziehungen zu allen möglichen Menschen. Dafür brauche ich Menschen, die mein Leben bereichern , mit tragen und unterstützen, auch wenn ich mal daneben liege. Dafür brauche ich keine Institution mit einem bezahlten Professionellen. Weil das definitiv zu Bequemlichkeit und Selbstgerechtigkeit/Heuchelei verleitet (s.o).

        Da Du mir einen Tipp gegeben hast, erlaube ich mir, Dir eine Frage zu stellen auf die ich keine Antwort haben möchte 🙂 Es geht nicht um richtig oder falsch.

        Was ist, wenn der Mensch keinen freien Willen hat? Welche Auswirkungen hat das auf unser Leben/Theologie?

        In diesem Sinne einen guten Tag.

      2. Lieber André,

        ich freue mich, dass Du einen (Erkenntnis-) Gewinn von der Diskussion mit mir hast.

        Trotzdem noch kurz als Antwort auf deine abschließende Frage: Die Prädestinationslehre ist zu kompliziert, um sie hier umfassend zu diskutieren. Nur so viel:

        Ich bin überzeugt davon, dass der Mensch tatsächlich NICHT frei ist in seinem Willen. Das passt bei erster Betrachtung nicht mit meinem Artikel zusammen, ist aber dennoch so. die Bibel ist da sehr klar. Meine Schlussfolgerung daraus ist aber nicht, dass der Mensch keine Entscheidung treffen sollte und dass er damit sündigt.

        Ich glaube, dass der Mensch sehr wohl Entscheidungen treffen sollte, die Bibel ist voll von Aufforderungen dazu. Sie geht davon aus, dass diese Entscheidungen durch den Heiligen Geist gelenkt und somit nicht frei sind.

        Soweit mal in der Kürze. Herzliche Grüße in die Pfalz

        LG Jens

  6. Es ist schon schade, wie sehr der Streit zwischen Luther und Erasmus missverstanden wird, gerade von frommen Christen. Als ob es deswegen verboten wäre, zu einer bewußten Entscheidung aufzurufen, selbst wenn Gott beides wirkt, das Wollen und das Vollbringen. – Das hat auch die Kirche in den lertzten Jahhunderten und sogar Rudolf Bultmann in seinen Predigten regelmäßig getan. – Nun ja, der Humanismus gaukelt uns eben vor, die totale Freiheit zu haben. Das haben Kant und die Aufklärung dann noch verstärkt. Warum sollten die nicht recht haben? Und warum sollte ausgerechnet so ein mittelalterlicher Theologe aus der Provinz Sachsen recht haben?
    Nun, ich bin froh, die Heilsgewißheit zu haben, die Erasmus niemals haben konnte …. .

  7. Hallo Jens Waetjen,

    ich bin hin- und hergerissen von Deinem Beitrag. Zunächst „hin-“ 🙂 , weil du das Thema überhaupt aufgreifst und weil du einen unaufgeregten, verständlichen Stil pflegst.
    Dann aber doch ein wenig enttäuscht, weil der Beitrag doch glatt und unverbindlich bleibt und auch der Eindruck erweckt wird, Kritik an den charismatischen Gemeinden stehe eher pauschal und ein wenig diffus im Raum. Dazu wird noch der Eindruck erweckt, in den Kirchen der EKD seien Mission, Evangelisation und die bewußte Entsscheidung für den christlichen Glauben geradezu verpönt. Selbst vom liberalen Flügel gibt es mitunter Unterstützung für eine Evangelisation wie Pro Christ. Diese und weitere Werke der evang. Allianz werden z.B. hier in Würrtemberg regelmäßig aus Kirchensteuermitteln unterstützt, die Haushaltspläne finden eine Mehrheit der Synode. — Luther selbst sprach ja auch von den „Menschen, die mit Ernst Christen sein wollen“. Da führen Deine Aussagen also vom Problem weg bzw. geben eine Erklärung, die so nicht wirklich korrekt sein kann. – – – Nun kann niemand von Dir erwarten, Deine Gemeinde bloßzustellen, doch spätestens mit der NDR-Doku. sind doch einige Dinge so öffentlich, dass man sie nicht ignorieren kann, wenn man das Thema Druck und Manipulation anspricht. Die starke Position des Gemeindeleiters und den Leitern von Gemeindekreisen; die Praxis der prophetischen Rede; die Betonung geistlicher Kampfführung, der Umgang mit nicht per Gebet erzwingbaren Heilungen; eine stark am Buchstaben orientierte Bibelauslegung, bei der nur relativ willkürlich ein historischer Kontext mitberücksichtigt wird — das alles ist ein guter Nährboden dafür, dass Druck ausgeübt und manipuliert werden kann. Sicher hat jede Gemeinde redliche und unredliche Mitarbeiter, doch die Art und Weise der Verkündigung und des Gebets läßt in einer Gemeinde, die regelmäßig äußere Wunder erwartet bzw. wo diese schon auf Programmzetteln angekündigt werden, die Versuchung zur Manipulation beinahe naturgemäß größer werden. — Ich persönlich schreibe mindestens einen Teil des Erfolgs charismatischer Gemeinden Methoden zu, wie sie von Motivationstrainern oder von der Werbeindustrie erfolgreich angewendet werden; Selbstsuggestion spielt in meinen Augen ebenfalls eine Rolle. Das ist jetzt wirklich knallharte, vielleicht auch überzogene Fundamentalkritik, doch ein Stück weit muss man sich dorthin bewegen, wo es schmerzhaft wird. Eine Gemeinde die nur in vagen Formulierungen („niemand ist fehlerlos“) reagiert bzw. den Eindruck vermittelt, die Kritiker selbst seien bzw. hätten das Problem erweckt in mir noch kein Vertrauen.

    Ich hoffe, ich habe den Bogen jetzt nicht überspannt 🙂

    1. Lieber Rainer,

      Vielen Dank, dass Du dich mit meinem Beitrag auseinandergesetzt hast. Ich habe deinen Kommentar mit Interesse gelesen. Noch mehr hätte ich mich gefreut, wenn du etwas auf meine Argumente eingegangen wärst. Ich finde Kritik in Ordnung aber es sollte dann ein Dialog sein und nicht das Wiederholen von altbekannten und uralten Vorwürfen, die man auf jeder anticharismatischen Website findet, oder in schlechten NDR-Filmen, die wenig belegen und viel behaupten.

      Von deiner Art und Kenntnis her habe Ich den Eindruck, dass da noch mehr geht und wir uns noch auf einer anderen Ebene unterhalten könnten. Da hatte ich Interesse daran.

      Also dass liberale Synoden jetzt ganz offen für die Unterstützung von pro-Christ wären halte ich für ein Gerücht. Gerade die württembergische ist ja recht „fromm“ und setzt sich nach einem Deutschland-weit einmaligen Wahlrecht zusammen. Welche andere Synode in Deutschland genehmigt denn Haushaltsplan mit Mitteln für missionarische Initiativen, in denen zur Entscheidung aufgerufen wird? Vielleicht noch die sachsische.

      Sorry aber ich hatte ein ziemlich langes Gespräch mit der Dogmatik-Abteilung in Hannover, meine Behauptung, dass lutherische Dogmatik gegen freie Willensentscheidungen gerichtet ist steht auf ziemlich festen Füßen.

      Gerne glaube ich, dass so manches Amt für Missionarische Dienst es anders sieht und Änderungen wünschte. Sicher gibt es auch große Teile von Missionsbewegten und Willow Creek Fans in der ev. Kirche und sie sehen es sicher auch anders, aber die Richtlinienkompetenz liegt bei der Dogmatik.

      Gerne können wir uns mal auf einen Kaffee treffen. Hätte mich gefreut, wenn Du deine Identität etwas mehr lüftest.

      Dir noch einen schönen Abend.

      Herzlichen Gruß

      Jens

      1. Lieber Jens,

        danke für Deine Antwort. Ich habe keinen Grund meine Identität vor Dir zu verbergen und werde gerne persönlich Kontakt mit Dir aufnehmen.
        Dann kann ich vielleicht feststellen, ob ich ein Opfer anticharismatischer Vorurteile bin. Ich meine, die EKD hat sich vor nicht allzu langer Zeit relativ intensiv mit Mission und Evangelisation beschäftigt.

        Mich überrascht es, dass es sozusagen eine strukturelle Verhinderung von Evangelisation durch die Dogmatik geben soll; man wirft der EKD auf der anderen Seite ja wieder vor, gar nicht mehr von der Theologie sondern vom Zeitgeist beherrscht zu sein.

        Dass je liberaler die Prägung, desto geringer die Begeisterung für Evangelisation ist, scheint zutreffend. Zum Teil geht es aber auch da um die Frage, mit welchen Methoden man arbeitet.

        Bis bald,

        Rainer

  8. „Ich persönlich halte das für ein fatales Überbleibsel aus dem Mittelalter. Die spirituelle Aufklärung hat dort noch keinen Einzug gehalten.“
    Interessant. Die andere Seite argumentiert genau umgekehrt. Nämlich dass mit der Aufklärung säkulare Strömungen in die Theologie eingesickert seien, welche die bis zum Mittelalter selbstverständliche gottzentrierte Lehre (Fokus auf Gottes Handeln und Entscheidungen) in eine menschenzentrierte (Fokus auf menschliches Handeln und Entscheidungen) verwandelt haben sollen.
    Ich bin selbst charismatisch und auf der Seite der „Freier-Wille-Fraktion“. Ich will nur davor warnen, dass wir uns selbst für klüger halten als die Leute damals.
    Ansonsten ein schöner Artikel, der viel Wahrheit enthält.

  9. Ich hätte auch ein Beispiel anzubringen:
    In meinem Bekanntenkreis gibt es einige Evangelisten, also Menschen, die eindeutig auf das biblische Bild und den Dienst eines Evangelisten passen. Aus div. Grünen wurden sie jedoch als Pastor vor eine Gemeinde gestellt.
    Nun tragen diese „Pastoren“ Sonntag für Sonntag ihr Evangelisten-Herz auf einem silbernen Tablett vor sich her und versuchen Sonntag für Sonntag so zu predigen, dass sich die Leute bekehren. Nur verhungert damit ihre Gemeinde, wo z.T. schon Leute seit 20-30 Jahren bekehrt sind. Auf der anderen Seite sind die Gemeindemitglieder auch enttäuscht, weil „der Pastor“ (oder auch „die Pastorin“) nicht so funktionieren, wie sie sich das von einem Hirten vorstellen. Kurzum: Die Gemeindemitglieder legen die Messlatte eines Pastoren (sesshaft) an einem de facto Evangelisten (nicht sesshaft) an.
    Der „Pastor“ nun als Evangelist zieht einen Termin nach dem anderen an Land, in dem er die Gelegenheit sieht, Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Dabei versucht er, die ganze Gemeinde mit zu integrieren. Die Gemeindemitglieder nehmen sich wiederum ihren „Hirten“ zum Vorbild und wollen ihm als Herde folgen, bleiben aber irgendwann auf der Strecke, weil sie das Tempo gar nicht mithalten können. Übrig bleiben Gemeindemitglieder oder auch Mitglieder des Leitungsteams mit einem Burnout.
    Natürlich könnte man auch die Frage stellen, was den Apostel, der den Evangelisten als Pastor empfohlen hat, dabei geritten hat, solches zu tun. Hätte er nicht ahnen können bzw. müssen, dass das nicht gut geht?

    Nun zu konkreten Beispielen – natürlich ohne Namen zu nennen:
    Einer „Pastorin“ laufen regelmäßig die Mitglieder der Gemeindeleitung davon. Sie beruft dann zwar immer wieder neue, aber auch die schaffen es nicht, ihr gerecht zu werden bzw. umgekehrt. Besonders schlimm ist, dass sie die Bestätigung ihres Apostels hat, dass sie doch eine Pastorin ist und taub auf dem Ohr, dass ihre Qualitäten eindeutig denen eines Evangelisten entsprechen.
    Eine andere „Pastorin“ wurde von ihrem Mann (dem eigentlichen Pastor) mitsamt der Gemeinde sitzen gelassen. Sie verrichtet seit zig Jahren treu ihren Dienst, aber ihr Evangelistenherz blutet und sie weiß, dass Gott etwas anderes für sie hat, aber sie schafft es nicht, die Leitung an ihr Team abzugeben.
    Ein „Pastor“ dachte, er müsse seine Gemeinde auf ihn „einschwören“. Er hatte Hunderte guter Ideen und versuchte über ein weltliches Reward-System die Leute zur Mitarbeit zu motivieren. Aber im Hintergrund fühlten viele sich manipuliert. Er wurde in immer kürzeren Abständen krank und kam jedes Mal (positiv) verändert zurück. Gott war an der Arbeit, aber die Gemeinde ließ ihm nicht die Zeit, sondern nahm es selbst in ihre Hand.

    Ich denke, wer sich in seinem Umfeld und in Netzwerken umblickt, wird feststellen, dass viele fleißige, grundehrliche, aufrichtige und wahrhaftige Leute an Positionen ihren Dienst tun, an die sie Gott niemals gestellt haben kann. Aber es ist auch die eigene Verantwortung, so etwas zu überprüfen und nicht ungeprüft vom Leiter zu übernehmen, nur weil der gerade dort einen Mangel hat, den er damit bequem auffüllen kann.

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