[Lesezeit ca. 4 Minuten] Waren Sie schon mal mit einem Kind erstmals in einem Spielzeugladen? Ich schon, den Blick vergessen Sie nie! Die Augen gehen schier über, das Kind weiß gar nicht, wohin es zuerst schauen soll. So ähnlich muss es den Gläubigen gehen wenn sie sich entscheiden, mehr von Gott erleben zu wollen. Es ist ein Markt des Glaubens entstanden, der manchmal unübersichtlich ist.
Für die Glaubens-Anbieter, die (Frei-)Kirchengemeinden heißt das, dass sie ihr Gemeinde-Leben nicht nur nach den Vorgaben der Bibel bauen müssen, sondern dass ein weiteres Kriterium dazukommt: Die Bedürfnisse und Erwartungen der Gläubigen sind heute ein wichtiger Faktor wenn man eine Gemeinde ansprechend gestalten will.
Eine weltweite Studie erforschte die Bedürfnisse von Gläubigen
Bereits im Jahr 1996 beschäftigte sich eine weltweite Studie mit der Frage, welche Kriterien den Gläubigen wichtig sind. An welchen Punkten kann man attraktives Gemeinde-Leben festmachen, in dem sich Gläubige wohl fühlen und niederlassen? Es war die bis dahin umfangreichste Studie zum Thema Gemeindewachstum. In dem Buch „Die natürliche Gemeindeentwicklung“ stellte der deutsche Theologe und Publizist Dr. Christian A. Schwarz die wichtigsten Ergebnisse daraus vor. Etwa eintausend Gemeinden weltweit waren dazu befragt worden, ob sie wachsen oder schrumpfen, groß oder eher klein sind, charismatisch oder nicht-charismatisch sind.
Schwarz arbeitete damals die sieben wichtigsten Kriterien heraus:
- Qualitätsmerkmal 1: „Bevollmächtigende Leitung“
- Qualitätsmerkmal 2: „Gabenorientierte Mitarbeiterschaft“
- Qualitätsmerkmal 3: „Leidenschaftliche Spiritualität“
- Qualitätsmerkmal 4: „Zweckmäßige Strukturen“
- Qualitätsmerkmal 5: „Inspirierender Gottesdienst“
- Qualitätsmerkmal 6 „ganzheitliche Kleingruppen
- Qualitätsmerkmal 7 „Bedürfnisorientierte Evangelisation“
- Qualitätsmerkmal 8 „Liebevolle Beziehungen“
Dürfen Christen Bedürfnisse und Erwartungen haben?
Die Untersuchung hat den Verantwortlichen erstmalig deutlich vor Augen geführt, dass es attraktive und unattraktive Gemeinden gibt und dass man zur Unterscheidung zwischen beiden objektive Kriterien heranziehen kann. Es ist also wissenschaftlich nachweisbar, dass der Christ geistliche Bedürfnisse hat und diese auch befriedigt. Er sucht sich selbstständig die Quelle, bei der diese Bedürfnisse befriedigt werden. Wenn die Kirchen sich weigern, die spirituellen Bedürfnisse des postmodernen Menschen anzusprechen, dann werden diese an anderen Stellen suchen und wahrscheinlich fündig werden.
Die Studie war damals sehr umstritten. Viele Pfarrer fühlten sich von dem Gedanken überfordert, dass es derartige Kriterien gibt. Es hagelte Protest und böse Leserbriefe, von „Management-Methoden“ u. ä. war die Rede. Heute hat man sich an diese Gedanken gewöhnt. Es gibt eine Fülle ergänzender Forschung und auch praktische Erfahrungen zum Thema. Es gibt, zum Beispiel, große Willow-Creek-Kongresse mit tausenden Teilnehmern. Dort kann man heutzutage lernen, worauf es ankommt beim Bau einer ansprechenden Gemeindearbeit.
Interview mit Dr. Christian A. Schwarz
Fast 20 Jahre nach dieser Umfrage habe ich Dr. Christian A. Schwarz gefragt, wie er die Auswirkungen seiner Mammut-Pionier-Arbeit einschätzt.
FRAGE: Erstmals legten Sie 1996 Kriterien vor, an denen „attraktive“ also wachsende und „unattraktive“ Gemeinden festzumachen waren. Einigen Pfarrern war es denn auch wohl zu viel Transparenz, sie fühlten sich an moderne Marketingmethoden erinnert und verwiesen auf die soziale und Verwaltungsarbeit, die sie ja auch tun. Der Tenor damals war: Erfolg in der Gemeindearbeit kann nicht messbar sein, genauso wenig wie man Glauben messen kann. Wie stehen Sie dazu?
Dr. Christian A. Schwarz: Das war und ist eine häufige Position, in der Tat. Allerdings steht sie in Spannung zu fast allem, was wir in der Bibel (gerade in der Lehre Jesu selbst) im Blick auf „Frucht“ finden.
FRAGE: Waren die meisten Pfarrer damals erfreut, dass sie nun einen Maßstab hatten oder war der Tenor eher ablehnend?
Dr. Christian A. Schwarz: Jedenfalls war der langfristige „Tenor“ so, dass sich bis heute knapp 70.000 Gemeinden weltweit (und ca. 2.000 Gemeinden in Deutschland) auf einen Veränderungsprozess eingelassen haben. Das ist natürlich in der weltweiten Christenheit nur eine Minderheit, aber in manchen Ländern bzw. Denominationen doch schon eine langsam signifikant werdende Minderheit. Es ist aber noch ein langer Weg zu gehen.
FRAGE: Bis zum heutigen Tage haben die Kirchen mit Mitgliederverlusten und extrem geringem Gottesdienstbesuch zu kämpfen. Sie haben Antworten angeboten, wie Gemeinden wachsen können, die Pfarrer müssen zu zigtausenden bei Ihnen angerufen haben. Was ist in den letzten 19 Jahren geschehen? Wie viele Pfarrer haben davon gelesen, bzw. sich schulen lassen?
Dr. Christian A. Schwarz: Es darf ja nicht so getan werden, als wenn Mitgliederverluste eine Naturnotwendigkeit seien bzw. ein weltweiter Trend. Noch nie ist die Christenheit so sehr gewachsen wie derzeit. Insgesamt sind es bis heute knapp 70.000 Gemeinden, die sich (natürlich in unterschiedlicher Intensität) auf das von uns entwickelte Modell der natürlichen Gemeindeentwicklung eingelassen haben. Die Ergebnisse sind Mut machend: Wenn wir alle Gemeinden selektieren, die drei oder mehr Profile erhoben haben, so hat sich bei ihnen im Schnitt die Qualität um 6 Punkte gesteigert und die quantitative Wachstumsrate um 51%.
FRAGE: Gibt es spirituell erfolgreiche Gemeinden, die geistliche Inhalte vermitteln, so dass Gläubige dort gerne bleiben und sich wohlfühlen?
Dr. Christian A. Schwarz: Diejenigen Gemeinden, in denen Menschen „gern bleiben“ sind, von verschwindend wenigen Ausnahmen abgesehen, durchgehend „spirituell erfolgreich“, also geistliche Inhalte vermittelnd. Gemeinden, die auf andere Faktoren setzen (z.B. Marketingstrategien) können durchaus kurzfristige zahlenmäßige Erfolge vermelden, langfristige Frucht indessen nicht.
FRAGE: Heute gibt es durch verschiedene Entwicklungen bedingt an vielen Orten in Deutschland einen regelrechten spirituellen „Markt“ aus Kirchen, Freikirchen, esoterischen Angeboten und diversen christlichen Gruppen. Die Kirchen waren früher „spirituelle Vollversorger“, hatten den Anspruch, jegliche theologisch machbare Frömmigkeit zu bedienen. Heute werden viele Pfarrstellen zusammengelegt und die Kirchen werden in dem Markt immer mehr zu einem Anbieter von Vielen. Sind die Kirchen für den Markt gerüstet?
Dr. Christian A. Schwarz: Na ja, die Frage nach „den Kirchen“ ist so nicht zu beantworten. Tatsache ist: Viele sind überhaupt nicht dafür gerüstet; andere dagegen erstaunlich gut. Und oft sind es eher unbekannte Gemeinden, die Erstaunliches bewirken. Wir erleben eben nicht den einen universellen Trend, sondern unterschiedliche – und durchaus widersprüchliche – Trends parallel.
FRAGE: Was sollten die tun, die nicht gerüstet sind?
Dr. Christian A. Schwarz: In unserem NCD-Slang ausgedrückt ist die Antwort klar: Sich auf ihren jeweiligen „Minimumfaktor“ (also auf das am schwächsten entwickelte der 8 Qualitätsmerkmale) konzentrieren. Die eigenen Stärken dafür nutzen, um in diesem strategisch entscheidenden Bereich Wachstum zu erfahren. Das mag zwar keine allzu populäre Antwort sein, aber wenn man sich die Implikationen, die sie enthält (und die nachweisbaren Wirkungen, die von ihr ausgehen) genauer anschaut, ist sie allerdings spektakulär.
FRAGE: Gibt es Schieflagen?
Dr. Christian A. Schwarz: Jede Menge. Im Blick auf die Frage, was die Kriterien dafür sind, dass manche Gemeinden wachsen und andere schrumpfen, gibt es heute eine Fülle gesicherter Erkenntnisse, jedenfalls weitaus mehr, als dies vor 20 Jahren der Fall war. Schieflagen kommen meist dadurch zustande, dass Lösungen einerseits in Modeströmungen, Gimmicks, Marketingmaßnahmen gesehen werden, andererseits in einem trotzigen und traditionalistischen „Weiter wie bisher“.
FRAGE: Was könnten sie besser machen?
Dr. Christian A. Schwarz: Aufrechte Neugierde entwickeln für Neues. Freude an den positiven Erfahrungen anderer (die es zuhauf gibt). Bereitschaft, die eigene Praxis infrage zu stellen. Damit wären wir schon einen entscheidenden Schritt weiter.
Vielen Dank für das Gespräch!
veröffentlicht im Mai 2015 durch Jens Wätjen
[alle Fotos in diesem Beitrag von Shutterstock]
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